Odessa – Mai 2014

Odessa – Mai 2014

„Herr, wir bitten, komm und segne uns; lege auf uns deinen Frieden. Segnend halte Hände über uns. Rühr uns an mit deiner Kraft.“ – Peter Strauch

Dieses Lied habe ich seit meiner Kinderzeit unzählige Male gesungen und noch nie waren mir die Worte so ernst wie in diesen Tagen. Frieden ist das, was sich die meisten Menschen hier in Odessa und in der gesamten Ukraine mehr als alles herbeisehnen.

Die Vorfälle der letzten Woche, wo bei Unruhen in Odessa über 40 Menschen ums Leben gekommen sind und die täglichen furchtbaren Nachrichten aus den Gebieten rund um Donezk, Mariupol und Lugansk machen uns sehr traurig. Ich lebe nun seit 1996 in der Ukraine und habe die Ukrainer und besonders die Einwohner von Odessa immer als geduldige, tolerante, freundliche und offene Menschen erlebt. Deshalb fällt es wohl auch so schwer, Erklärungen für die Eskalationen so finden. Ich möchte in diesem Brief meine Sicht der Dinge schildern, da ich täglich in Briefen und Anrufen danach gefragt werde. Und ich möchte Euch in unsere Pläne für die nächsten Wochen und Monate einweihen. Doch mehr als alles möchte ich Euch um Gebetsunterstützung bitten, denn inzwischen glauben selbst selbsternannte Atheisten, dass nur Gott wirklich Frieden in der Ukraine schenken kann.

Nun kurz zum 2. Mai: Für diesen Tag war in Odessa ein Fußballspiel zwischen Charkow und Odessa vorgesehen. Vor dem Spiel sollte eine friedliche Demonstration für die Einheit der Ukraine, an der Fußballfans und proukrainisch eingestellte Einwohner von Odessa teilnehmen wollten stattfinden. Das wäre auch nicht die erste Demo dieser Art gewesen. Bis zu 10 000 Odessiten sind in den letzten Wochen immer wieder auf die Straße gegangen, um zu bezeugen, dass Odessa eine ukrainische Stadt ist, die nicht vorhat sich Russland anzuschließen. Fast genauso lange gab es eine viel kleinere Gruppe prorussischer Anhänger, die ein Zeltlager in der Nähe des Hauptbahnhofes aufgeschlagen hatte. Diese Gruppe habe ich mehrfach beobachtet und sie immer als sehr aggressiv und ungehalten erlebt. Sie bestand vor allem aus älteren Menschen, die sich für eine Wiederauferstehung der Sowjetunion einsetzen 🙁 das wurde zum Beispiel mit Stalinportaits und Roten Fahnen zum Ausdruck gebracht. Schon vor dem 2. Mai hatten Gruppen dieser prorussischen Separatisten in sozialen Netzwerken aufgerufen, die angekündigte Demonstration zu stören. Als sich der Zug dann im Stadtzentrum in Bewegung setzte, kamen circa 200 zum Teil bewaffnete, maskierte „Menschen“ dieser Aufforderung nach. Die ersten proukrainischen jungen Männer wurden erschossen und erschlagen. Die Polizei unternahm nichts. Im Gegenteil inzwischen gibt es Unmengen von Foto – und Videomaterial (den Handys sei dank), das beweist, dass zwischen den Angreifern und der Polizei eine Art Zusammenarbeit bestand. Aufgebrachte Fußballfans und Aktivisten machten sich daraufhin auf den Weg zu dem bereits erwähnten Zeltlager und brannten es nieder. Von den Leitern der prorussischen Demonstranten wurden diese aufgerufen, sich in einem nahegelegenen Gewerkschaftsgebäude zu verbarrikadieren, dass dann später in Flammen aufging. Der Brandherd lag wohl im dritten Stock. Bei diesem Brand starben viele Menschen. Genauere Untersuchungen zum Hergang dauern noch an. Es war die größte Tragödie in der Geschichte Odessa seit dem Krieg.

Nun haben viele Menschen Angst und reagieren panisch, bei den kleinsten Gerüchten. Die Straßen und Cafes sind leerer als sonst um die Jahreszeit. Viele Ausländer haben die Stadt verlassen. Auch unsere beiden deutschen Freiwilligen mussten erstmal zurück nach Deutschland.

Oft werde ich gefragt, wann wir gehen 😉 dazu kann ich Euch alle beruhigen: wir fühlen uns sicher hier, die Kinder gehen zur Schule und unsere Zentren sind auch wie immer geöffnet. Ich habe den Eindruck, dass unsere Mitarbeiter, Kinder und Jugendlichen sehr froh sind, dass wir normal weitermachen und uns nicht von der Panik, die vor allem durch die Medien in Ost und West verbreitet wird, anstecken lassen. Bitte macht Euch keine Sorgen! Es geht uns gut! Gerade in dieser schwierigen Zeit für die Ukraine lernen wir noch mehr zusammenzuhalten, auch unter den verschiedenen christlichen Organisationen und Gemeinden, unter Nachbarn, Freunden und Bekannten.

Trotzdem kann man das Chaos in Politik und Gesellschaft nicht leugnen. Wir hoffen sehr, dass am 25. Mai die Präsidentschaftswahlen und auch die Bürgermeisterwahlen in Odessa durchgeführt werden. Das ist ein wichtiges Gebetsanliegen!

Wir als „Lebendige Hoffnung“ stecken schon voll in den Planungen für die Sommerferien. Wir wollen am 21. Juni mit einer Gruppe von 28 Leuten für zwei Wochen nach Deutschland fahren. Im Juni sind dann noch ein Seminar mit 35 Jugendlichen und unser großes Feriencamp für bis zu 80 Kinder geplant. Die Kinder vor allem aus Petrovka, für die es unser erster gemeinsamer Urlaub ist freuen sich schon riesig auf die gemeinsame Zeit.

Bitte denkt an uns im Gebet. Immer wieder muss ich in diesen Tagen an deutsche Bekannte in Mariupol denken, die über viele Jahre ein ganz tolles sozial-christliches Hilfswerk aufgebaut haben und nun nicht dorthin zurück können. Das macht mich sehr, sehr traurig. Ich hoffe so sehr, dass sich die Lage entspannt und dass es in Odessa ruhig bleibt!

Am Sonntag, dem 11. Mai 2014, habe ich ein Interview für das Osteuropamagazin im WDR 5 Radio gegeben. Wer möchte, kann es sich hier anhören 🙂

Ich bedanke mich sehr für Eure Freundschaft, die ermutigenden Worte, Gebete und Gaben. Ihr seid dadurch ein ganz wichtiger Teil der „Lebendigen Hoffnung“. Wir hoffen sehr, dass unser nächster Brief mit mehr positiven Nachrichten gefüllt sein wird.

Gottes Segen wünschen Euch Slavik, Nicole, Rebekka und Sarah und alle Kinder und Mitarbeiter von „Lebendige Hoffnung“ Odessa